«In meinen Gedanken bin ich frei.»

Liliane Wyss

Liliane Wyss ist nun frei von ihrem Körper. Dankbar behalten wir sie als engagierte und mutige Kämpferin und als Botschafterin für Unterstützte Kommunikation in Erinnerung.

Beitrag erschienen: Schweizer Familie, Ausgabe 20/2018 

Sie kann weder sprechen noch gehen. Ein Hirninfarkt hat bei ihr das seltene Locked-in-Syndrom ausgelöst. Seither ist Liliane Wyss bei vollem Bewusstsein in einem gelähmten Körper gefangen. Doch sie hat gelernt, in und mit den engen Grenzen zu leben.

Es passierte an einem Samstag Ende März 2001. Plötzlich spürte die damals 22-Jährige ein Stechen im Kopf. Sie war allein im Haus ihrer Eltern im bernischen Schwarzenburg. Die Schmerzen wurden immer stärker, und die Welt vor ihren Augen verschwamm. Liliane Wyss sackte zu Boden, kroch mit letzter Kraft zum Telefon. Doch vor ihren Augen flimmerte es zu stark, um noch eine Taste zu treffen. Als nach etwa einer Stunde ihre Schwester Sabine nach Hause kam, fand sie Liliane nass vor Schweiss, sitzend an die Wand gelehnt. Sabine, damals noch mitten im Medizinstudium, alarmierte die Ambulanz.

Dieser Samstag im Jahr 2001​ teilte das Leben von Liliane Wyss in ein Vorher und ein Nachher.

Vorher hatte sie Biochemie studiert und Musik geliebt. Sie hatte Bratsche gespielt im Symphonie-Orchester der Stadt Freiburg und in einem Barockensemble. Daneben war sie im Kanuklub gewesen und mit ihrem Kajak auf der Simme, der Saane, der Kander oder der Reuss gepaddelt. Ausserdem hatte sie viele Länder bereist. Am Great Barrier Reef in Australien hatte sie das Tauchbrevet absolviert.

Das Nachher begann auf der Intensivstation im Inselspital Bern. Drei Tage nach ihrem Zusammenbruch wachte Liliane Wyss aus dem Koma auf. Rückenlage, im Hals eine Kanüle, mit der sie künstlich beatmet wurde. Sie war erstaunt, dass die ganze Familie an ihrem Bett stand. Die Eltern, ihre Schwester Sabine und ihre Zwillingsschwester Brigitta. Sie fragten: «Liliane, verstehst du uns?» Klar verstand sie und wollte antworten. Doch sie konnte es nicht. In ihrem Buch «Rosenmeer», das sie später schrieb, steht: «Stumm wie ein Fisch blinzle ich hilflos in die Runde. Schnell erkenne ich, dass ich sonst nichts bewegen kann. Keine Hand, keinen Fuss, weder Lippe noch Zunge.» Und: «Es löst ein frustrierendes Gefühl in mir aus. Ich bin total hilflos, aufgeschmissen und verärgert.»

Mit Zwinkern kommunizieren

Liliane Wyss konnte nur noch ihr rechtes Augenlid bewegen. Ihre Zwillingsschwester erkannte diese Fähigkeit und schlug ihr vor, mit Zwinkern zu kommunizieren: Zweimal heisst Ja, das Auge schliessen heisst Nein. Fragen stellen konnte Liliane trotzdem keine. Ihr wurde zwar gesagt, dass sie einen Hirninfarkt erlitten hatte. Vermutlich ausgelöst durch eine Venenthrombose. Warum sie aber komplett gelähmt war, wurde ihr nicht erklärt. «Alle scheinen zu wissen, was mit mir geschehen ist. Alle ausser mir», schreibt sie später auf. Die Ärzte unterhielten sich im Flüsterton. Liliane Wyss schnappte immer wieder den Begriff «locked-in» auf (siehe Box unten), hatte aber keine Ahnung, was das für sie bedeuten könnte. Stumm und regungslos lag die junge Frau im Bett, eingeschlossen im eigenen Körper.

Heute ist Liliane Wyss 39. Sie leidet noch teilweise am Locked-in-Syndrom, kann weder gehen noch sprechen. Bloss den Kopf, den linken Arm und das linke Bein kann sie wieder leicht bewegen. Das Gespräch für diesen Text findet in der Wohngemeinschaft Fluematt im Kanton Luzern statt, einem Heim für Schwerstbehinderte, wo Liliane Wyss wohnt. Sie kommt mit ihrem Elektro-Rollstuhl angefahren, tippt dann auf einen Bildschirm, bis aus einem Lautsprecher ein «Hallo» ertönt. Danach streckt sie die linke Hand zur Begrüssung aus. Ihr linkes Auge ist abgedeckt, denn sie kann nicht steuern, in welche Richtung es schaut. Ohne Abdeckung würde sie doppelt sehen. Auch ihr Kehlkopf ist gelähmt, deshalb atmet sie durch ein Ventil im Hals. Beim Einatmen ertönt ein Sauggeräusch. Geschlossene Fragen kann Liliane Wyss mit dem linken Daumen bejahen und mit Kopfschütteln verneinen. Aber etwa auf die Frage, ob sie zum Zeitpunkt des Hirninfarktes noch bei ihren Eltern gewohnt habe, folgt erst mal Ruhe. Die Ziervögel, sechs Gouldamadinen, in ihrem Zimmer pfeifen in die Stille. Liliane Wyss braucht über zwanzig Sekunden, bis die monotone Stimme aus dem Lautsprecher sagt: «Freiburg in WG gewohnt.» Beim Gespräch mit dabei ist ihr Vater Fritz Wyss, 72. Der pensionierte Lehrer besucht seine Tochter fast jede Woche.

Der Vater war es auch, der 2001 auf der Intensivstation die Idee mit der Sprechtafel hatte: ein grosses Blatt, auf dem alle Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge standen. Der Gesprächspartner musste mit dem Finger den Buchstaben entlangfahren, und Liliane Wyss signalisierte mit dem rechten Augenlid, wenn der Finger beim gewünschten Buchstaben war. Doch diese Art von Kommunikation brauchte Geduld, viele Besucher waren überfordert. Die junge Frau war entmutigt und verweigerte immer wieder, mit der Sprechtafel zu kommunizieren. Einmal buchstabierte sie «SCHLAFTABLETTEN». In ihrem Buch schrieb sie über die damalige Situation: «Ich möchte für immer einschlafen, so erschöpft und müde bin ich geworden.»

Nach vier Tagen schaffte es Liliane Wyss, den grossen Zeh des linken Fusses leicht zu bewegen. Eine Krankenschwester kam auf die Idee, ein Glöckchen an den Zeh zu binden. Von da an konnte sich Liliane Wyss wieder bemerkbar machen. Mit der Zeit konnte sie auch einige Muskeln im Gesicht bewegen. Später einige Finger an der linken Hand, dann den linken Fuss. Nach vier Wochen auf der Intensivstation wurde sie ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil verlegt, wo sie über ein Jahr lang blieb. In dieser Zeit musste Liliane Wyss, die seit ihrer Jugend an einer Darmkrankheit leidet, eine Darmspiegelung machen; im Grunde Routine für sie. Doch jetzt, da sie fast komplett gelähmt und stumm war, sollte es zum Horrorerlebnis werden. Der Assistent wollte ihr per Infusion Schmerz- und Beruhigungsmittel geben. Der Arzt meinte: «Unnötig, sie ist gelähmt, sie fühlt nichts.» Der Arzt irrte sich. Kaum führte er das Instrument zur Darmspiegelung ein, begannen die Schmerzen. «Ich weine und schreie still vor mich hin», beschreibt Liliane Wyss diese Tortur in ihrem Buch. Später wurde ihr der Dickdarm entfernt, heute hat sie einen künstlichen Darmausgang.

Vieles bleibt ihr verwehrt

Wie kann sie sich ernähren? Zehn Sekunden Pause. «Magensonde.» Und der Vater ergänzt: «Astronautennahrung.» Die Tage seiner Tochter seien von der Pflege bestimmt, sagt Fritz Wyss. Waschen, Urinkatheter und Darmbeutel wechseln, Speichel aus dem Mund absaugen usw. Die Pflege dauert jeden Tag bis kurz vor Mittag. Ist Liliane Wyss erkältet, kann sie nicht selber husten. Der Schleim muss ihr aus der Lunge abgesaugt werden. Tag und Nacht. «Ich bin unheimlich stolz auf meine Tochter», sagt er dann. Die Zwillingsschwester von Liliane habe Familie. «Sie schmeisst den Haushalt, arbeitet daneben. Liliane hat bloss sich selber. Und sie muss diese Situation aushalten. Diese Aufgabe ist nicht kleiner, sondern grösser.» Auf die Frage, wie sie lernte, ihren Zustand zu akzeptieren, ertönt nach einer Pause aus dem Sprechcomputer: «Keine andere Wahl.» Genau diese beschränkte Kommunikation, die keine Ausführungen, keine Nuancen zulässt, schmerzt Liliane Wyss am meisten. Zwar kann sie die Buchstaben via Touchscreen eintippen, die Sprechtaste drücken, und der Text ertönt über die Lautsprecher, gesprochen von einer blechernen Frauenstimme. Doch der Text komme «monoton, undeutlich und frostig artikuliert» aus den Boxen, schreibt sie in ihrem Buch. «Zum Reden, Plaudern, Tratschen, Flüstern, Schreien, Schimpfen, Weinen, Lachen und auch zum Singen – dafür bräuchte es eine Stimme.»

Vieles wird Liliane Wyss verwehrt bleiben. Auf die Frage, ob sie sich eine Beziehung zu einem Mann wünsche, antwortet sie: «Hoffnung aufgegeben.» Sie hat gelernt, die Grenzen, die ihr gesetzt sind, zu akzeptieren. Deshalb ist Liliane Wyss keine Frau, die in Selbstmitleid versinkt. Sie schafft es mit ihren Mitteln, mit den Mitmenschen im Austausch zu bleiben, etwa indem sie schreibt. Im Buch «Rosenmeer» erzählte sie ihre Lebensgeschichte, später verfasste sie ein Kinderbuch mit dem Titel «Der brennende Schwan und andere Tiergeschichten». Per Mail und SMS kommuniziert sie mit Freunden und Familie, sie shoppt online und erledigt im Internet auch Bankgeschäfte selbständig. Um andere für ihre Situation zu sensibilisieren und eine «sinnvolle Beschäftigung» zu haben, hält sie zudem regelmässig Vorträge. Wie geht das? Sie tippt, die Ziervögel zwitschern. Dann ertönt der Anfang ihres Vortrages: «Hallo miteinander, ich möchte mich kurz vorstellen, an die etwas ungewohnte Stimme müssen Sie sich gewöhnen. Ich bin Liliane Wyss und bin 39 Jahre jung.» Ihren Nachnamen spricht der Computer nicht Wiis, sondern Wüss aus.

So gut es geht, versucht sie, am Leben teilzuhaben. Und so oft sie kann, besucht sie Zirkusvorstellungen und andere kulturelle Anlässe. Ohne Hilfe wäre ihr das unmöglich. Deshalb hat sie vor Jahren in einer Lokalzeitung eine Annonce geschaltet: «Suche Begleitung für Ausflüge. Sitze im Rollstuhl und spreche mit einem Computer.» Drei Begleiterinnen, die sich damals meldeten, sind ihr gute Freundinnen geworden. Für ihren Dienst wollen sie kein Geld. Liliane Wyss zahlt ihnen lediglich Zugticket und Eintritt. «Nächste Woche gehst du doch wieder weg, oder?», fragt der Vater. Liliane Wyss drückt auf ihren Bildschirm: «Divertimento.»

Text: Matthias von Wartburg 
Fotos: Herbert Zimmermann
Besten Dank für das freundliche Einverständnis, diesen Beitrag über die langjährige AC-Kundin Liliane Wyss auf unserer Website veröffentlichen zu dürfen.

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